Immer wissen, wer welchen Hut auf hat

Unklare Verantwortlichkeiten schwächen jede Organisation. Sie führen zu internen Diskussionen, Politik oder Machtspielen. Das Unternehmen kümmert sich mehr um sich selbst, als um seine Kunden. Abhilfe schafft ein Prozess, der kontinuierlich auf allen Ebenen dafür sorgt, dass unklare Verantwortlichkeiten zugeordnet oder fehlende geschaffen werden – Schneller und effektiver, als Politik oder Machtspiele das je könnten. 

 

In meiner Beratungs-Praxis habe ich es oft mit IT-Unternehmen zu tun, die ihren Vertrieb optimieren wollen. Manchmal arbeite ich dabei mit dem Direktvertrieb, manchmal mit den Technikern und zuweilen auch mit der Abteilung, die später die Lösung beim Kunden implementiert.

Bei einem Kunden hatte ich die Ehre, alle drei Divisionen kennen lernen zu dürfen. Als wir die Verantwortlichkeiten im Vertriebsprozesses diagnostizierten, wartete jede Abteilung mit einer eigene Version von Zuständigkeiten und Abläufen auf; teilweise mit beachtlich großen Abweichungen voneinander. Uneinigkeiten darüber, wer wann mit wem beim Kunden den Kontakt hält, wann im Prozess die technischen Kollegen hinzugezogen werden sollen oder wer das Kundenangebot schreibt waren nur drei von vielen.

Die Versuche, mit dieser unangenehme Situation umzugehen waren vielfältig: Gegenseitige Schuldzuweisung, übereinander statt miteinander reden, Eskalationen ins Management bis hin zu politischen Spielchen. Sie ahnen es, nichts davon machte es besser. Abgesehen, von den Ressourcen, die diese Streitigkeiten schon für sich allein schluckten, war das Arbeitsergebnis suboptimal und die Kundenzufriedenheit litt.

 

Implizite Erwartungen

Ähnliche Muster erlebe ich in vielen Organisationen, manchmal mehr manchmal weniger ausgeprägt. Was geht hier ab? In kurzen Worten: Die Damen und Herren des beschriebenen Beispiels sind Opfer von impliziten, unausgesprochenen Erwartungen geworden. Erwartungen von anderen an sie und Erwartungen von Ihnen an andere. Die Tücke bei impliziten Erwartungen: Wir erkennen sie nicht als solche. Wir verstehen daher oft gar nicht, wie jemand überhaupt anderer Meinung sein kann. Meiner Erfahrung nach sind heutzutage die meisten Erwartungen in Organisationen impliziter Natur.

Vergleichen Sie z.B. mal Ihre Stellenbeschreibung (wissen Sie noch wissen, wo Sie sie aufbewahren?) mit dem, was Sie täglich tun. Alles, was dort nicht drinsteht, von Ihnen aber trotzdem erwartet wird ist implizit.

Waren Sie schon einmal frustriert darüber, wie ein Kollege eine Aufgabe (nicht) erledigt hat? Und konnte dieser womöglich Ihren Unmut überhaupt nicht nachvollziehen? Wahrscheinlich hatten Sie eine implizite Erwartung an ihn.

Implizite Erwartungen, begegnen uns in unserem beruflichen Alltag an jeder Ecke. Selten sind sie den Akteuren bewusst und nahezu immer sorgen sie für Irritation.

 

Politik in Unternehmen

Die Methoden, impliziten Erwartungen im Unternehmen zu begegnen, sind vielfältig. Im Zweifel versuchen wir den Erwartungen des Managements gerecht zu werden. Einerseits wollen wir gut dastehen, andererseits auch unsere Chancen erhöhen, das Management im nächsten Konfliktfall auf unserer Seite zu wissen. Wenn möglich suchen wir uns noch Kollegen, die unsere Sicht der Dinge teilen, je mehr desto besser. Reicht das alles noch nicht, „eskalieren“ wir auf die nächste Hierarchie-Ebene und hoffen, dass unser Chef wiederum bei seinem Chef einen größeren Stein im Brett hat, als unser „Widersacher“. Ehe wir uns versehen, stecken wir bis zum Hals in genau den politischen Spielchen, die wir bei anderen immer verabscheuten. Ich habe Organisationen erlebt, in denen Eskalationen bis auf die oberste Ebene der Normalfall war. Sie können sich vorstellen, dass dabei eine Menge Porzellan zu Bruch geht und dass jede derartige Aktion das Unternehmen schwächt, weil es sich mit sich selbst, und nicht mit seinem eigentlichen Daseinszweck beschäftigt.

 

Ein transparenter Steuerungsprozess

Die Lösung dafür ist leichter als man denkt. Im Kern besteht sie aus drei einfachen Ideen:

  • Trage alle Verantwortlichkeiten zusammen und mache sie transparent
  • Schaffe einen kontinuierlichen Prozess in dem nicht geklärte Verantwortlichkeiten adressiert werden
  • Entscheidungen werden von denjenigen getroffen, die sie betreffen

Die Protagonisten müssten also zunächst akzeptieren, dass es verschiedene Auffassungen über Rollen und Verantwortlichkeiten gibt. Auf dieser Basis könnte dann jeder sein Verständnis seiner Rollen und Verantwortlichkeiten zusammentragen und transparent machen. Dabei wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sowohl Überschneidungen als auch Lücken von Verantwortlichkeiten geben.

Greifen wir das Beispiel von oben auf, in dem sich niemand für das Schreiben des Angebotes verantwortlich fühlte. Im Zweifel wird der Vertrieb vom Kunden danach gefragt und spürt als erster die Auswirkung dieser Dysfunktion. Demzufolge bringt er dieses Anliegen in das nächste Steuerungsmeeting ein. (Siehe auch „Wie sich Organisationen von allein optimieren“). Zur Lösung schlägt er vor, die Verantwortlichkeit wie folgt aufzugliedern:

Technischer PreSales:

  • Entwickeln und Angebots-taugliches aufbereiten des technischen Konzeptes
  • Einholen der Preise von den Vorlieferanten
  • Erstellen einer Deckungsbeitragskalkulation

Vertrieb:

  • Internes Abstimmen und festsetzen des Verkaufspreises
  • Zusammenführen der vertrieblichen und technischen Teile des Angebots in ein Angebots-Dokument
  • Übergabe des Angebots an den Kunden

Mit Hilfe des integrativen Entscheidungsprozesses (siehe Effektive Meetings) werden diese neuen Verantwortlichkeiten vereinbart und für alle transparent gemacht. Die Verantwortlichkeitslücke wurde geschlossen. Von den beteiligten Akteuren selbst; ohne, dass eine Managemententscheidung dazu nötig wurde, und all das nur in einem einzigen Meeting.

Wir benötigen also einen expliziten Prozess, in dessen Rahmen alle Rollen, Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse vereinbart und transparent gemacht werden. Außerdem muss er diese auch kontinuierlich an die sich permanent ändernden Umwelt anpassen können.

Bei Holacracy sprechen wir hier vom dem sogenannten Steuerungs- oder Governance Prozess: In regelmäßig stattfinden Steuerungsmeetings werden wahrgenommene strukturelle Probleme oder Verbesserungsmöglichkeiten von den Betroffenen eingebracht und von diesen anhand eines stringenten Prozesses in die passende organisatorische Änderung gefasst. Es gilt die Maxime:

Alles, was in diesem Rahmen im Steuerungsmeeting vereinbart und dokumentiert wird, darf von nun an erwartet werden. Alles andere nicht.

Natürlich kann sich weiterhin jeder freiwillig dafür entscheiden, auch außerhalb seiner Verantwortlichkeiten tätig zu werden, so es im Sinne des Unternehmens ist. Auch implizite Erwartungen wird es weiterhin geben. Sie können und sollen jedoch explizit gemacht und in den Steuerungsprozess eingebracht werden, um ggf. eine explizite Rolle oder Verantwortlichkeit daraus zu kreieren. So führt jede ehemals implizite Erwartung zu einem Mehr an Transparenz und macht die Organisation kontinuierlich besser.

 

Das Ende von Politik

Politik als Lösungsversuch für innere Ungereimtheiten wird damit überflüssig, weil die Spannungsfelder im Steuerungsprozess nun ein Forum haben, in dem sie adressiert, gelöst und transparent gemacht werden. Und nur dessen Output ist gültig.

Das ist auch eine gute Nachricht für die Beziehungskultur im Unternehmen. Die menschliche Ebene gewinnt nämlich Ihre Unschuld zurück. Sie kann nicht mehr ge- oder sogar missbraucht werden, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Organisationen mit einem soliden und transparenten Steuerungsprozess sind daher per Definition über jeden Verdacht von Kungelei erhaben.